Donnerstag, 28. November 2013

Zaubernebel, 2. Teil


Ausnahmsweise bin ich heute auch bei euch - weil der 1. Advent am Sonntag ist, weil ich euch mag und weil ich euch die Fortsetzung des "Zaubernebels" schuldig bin. Los gehts ...


Der Nebel vor dem Fenster hat das Geschehen verfolgt. Ihm wird ganz warm, als er sich eng an die Fensterscheibe drückt. Er möchte Kevin zurufen: "Schrei so laut du kannst, mein Junge. Lauf an dem Fremden vorbei zum Opa Hans. Er ist bei den Tieren!" Aber kein Laut dringt aus dem Dunst zu Kevin. Nur Wassertropfen rinnen wie Tränen an dem Glas hinunter.
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"Na los, lass mich schon rein!" Ungeduldig schiebt der Fremde Kevin beiseite und steht mitten in der Stube. Kevin kommt sich noch kleiner und dünner vor, als er ohnehin schon ist. Seine Knie fühlen sich an wie Gummibärchen. Er nimmt allen Mut zusammen und zeigt auf die Küchentür. "Die Küche ist do ... dort", flüstert er stotternd. Der Mann grinst ihn spöttisch an. Und mit einem Mal ist er kein Handwerker mehr. Seine tief in die Stirn gezogene Mütze und die Sonnenbrille sind nur Tarnung, erkennt Kevin plötzlich. Bibbernd schlagen seine Zähne aufeinander. Vor Angst und vom Fieber. "Nein, nicht!", kann er noch schreien, bevor die große Hand auf seinem Mund jeden Laut erstickt. Grob wird er an den Tisch gedrückt. "Los, sag schon! Wo versteckt deine Großmutter ihre Wertsachen? Raus mit der Sprache oder dein letztes Stündlein hat geschlagen!"
Kevin gurgelt verzweifelt. "Wertsachen? Was sind Wertsachen?" Tränen laufen ihm über die Wangen bis in den Mund. Sie schmecken salzig, wie die Brühe aus Oma Annelieses Gurkenfass.
"Schmuck -, Ringe -, Ketten -, Broschen!", zählt der Fremde ungeduldig auf. Seine Stimme ist heiser. Kevin geht zum Wohnzimmerschrank. Ihm ist schlecht und bestimmt muss er sich gleich übergeben. Er zieht die Schublade auf und nimmt den kleinen Schmuckkasten heraus. Zitternd reicht er Oma Annelieses Schatz hinauf zu dem Mann mit dem hässlichen Mund.
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Nun hat der Nebel genug gesehen. Entrüstet plustert er sich auf. Seine großen Wassertropfen zerplatzen. Er wird dick und dicker, bis er großer feuchter Gischt geworden ist. Schnell gleitet er um die Hausecke, füllt alles mit undurchsichtigem Dunst und verharrt bewegungslos vor der Tür des kleinen Hauses.
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Kevin bekommt einen Stoß, fällt auf den Boden, genau auf sein Handy. Er hat es zu seinem siebten Geburtstag bekommen. Es ist kein Richtiges. Trotzdem sieht es so aus. Verzweifelt drückt er auf den roten Knopf. Es schrillt laut. Der Mann erstarrt. "Was soll das? Stell das sofort ab!" Trotzig schüttelt Kevin den Kopf. "Nein! Das tu ich nicht! Das ist die Nummer der Polizei. Die 110 ist das. Die hat mein Handy gerade gewählt!" Lieber Gott, mach das es funktioniert, bittet Kevin stumm und schiebt das quäkende Teil hinter seinen Rücken.
"Verflucht!", brüllt der Dieb, lässt Oma Annelieses Kästchen fallen und stürzt zum Ausgang. Kevin hört die Tür knallen und kann kaum glauben, dass der Spuk zu Ende ist. Weinend sammelt er den Schmuck ein, packt alles an seinen Platz zurück, bevor er zitternd zum Bett wankt.
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Kurze Zeit später ist Oma Anneliese zurück. Sie atmet schwer und presst die Hände auf die Brust. Erleichtert betrachtet sie Kevin, der ihrem Blick begegnet und so tut, als wäre er gerade aufgewacht.
"Gott sei Dank, dir geht es gut, mein Junge", sagt sie und streicht ihm liebevoll das feuchte Haar aus der Stirn. "Stell dir vor, genau vor unserem Haus ist ein Einbrecher und Dieb geschnappt worden. Er stand im Nebel. Total hilflos. Irgendjemand muss die Polizei gerufen haben." Oma Anneliese schüttelt verständnislos den Kopf und sieht aus dem Fenster. Der Nebel ist verschwunden. Sonnenstrahlen flirren durch den Raum, als Opa Hans in das Zimmer poltert. Schmunzelnd beugt er sich über Kevin. "Na mein krankes Hühnchen? Gibt es etwas Besonderes?" Sein Gesicht mit den vielen Falten bewegt sich lebhaft.
"Nö", antwortet Kevin hastig und drückt das Handy an sich. "Nur Nebel, Opa. Dicken, weißen Zaubernebel."

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Ich wünsche euch einen schönen 1. Advent!



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