Mittwoch, 25. September 2013

Bines Lesestunde





Der Grabsprung
von Sabine Bürger

Pastor Rudolf Dreihaupt schloß seufzend das große Stubenfenster. Sorgenvoll glitt sein Blick gen Himmel und kopfschüttelnd betrachtete er die dunklen, regenschweren Wolken. Bereits seit Tagen goß es ununterbrochen und riesige Tropfen klatschten an die Fensterscheiben, glitten auf die satte Erde und vereinigten sich zu einem nicht endenwollenden, nassen Strom.
Das kleine Dorf war ungewöhnlich ruhig. Still verharrten die Häuser inmitten der grauen, dunklen Regenwand, das Leben schien den Atem anzuhalten, selbst die Kinder blieben in den Stuben.
Ausgerechnet heute mußte Pastor Dreihaupt Heinrich Kuschke beerdigen. Mit siebzig Jahren hatte es den Heinrich erwischt und eine Lungenentzündung seinem Leben ein rasches Ende bereitet.
Seine Mutter war untröstlich. Dreiundneunzig Jahre war sie letzten Herbst geworden und nun beerdigte sie bereits das jüngste ihrer drei Kinder. Auch den Mann hatte sie im Krieg hergeben müssen. Das Leben war wirklich nicht gerecht.
Aber eine schöne Feier wollte sie ihrem Heini bereiten. Alle waren eingeladen und viele Blumen mußten auch da sein.
So war es für den heutigen Tag abgesprochen  und der viele Regen störte sie nicht.
Pastor Dreihaupt kleidete sich sorgfältig an, zog den weißen Kragen unter dem schwarzen Anzug gerade und knöpfte den Regenumhang fest zu. Zuletzt holte er die neuen, schwarzen Schuhe aus dem Schrank. Liebevoll strich er mit dem Ärmel über den glänzenden Lack. Nun mußte er im Regen auf den kleinen Dorffriedhof und seine Schuhe würden bei ihrem Jungfernaustritt auf dem schlammigen, feuchten Gelände leiden.
Trotzdem, es half alles nichts.
Würdevoll schritt er die Dorfstraße hinunter, grüßte freundlich nach rechts und links, hob zuweilen segnend die Hand und hielt die Bibel fest unter dem Arm geklemmt.
Bereits die gesamte kleine Gemeinde war auf dem Gottesacker versammelt. Alle wollten dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen.
Pastor Dreihaupt würdigte das Leben des Heinrich Kuschke dann auch in einer besonders schönen Andacht. Alle waren ergriffen und hin und wieder schneuzte eins in sein Taschentuch.
Mutter Kuschke wurde von zwei hilfreichen Armen gestützt. Ihr tränennasses, altes Gesicht war dem Gottesmann entrückt zugewandt. Sie nickte ihm zu und Pastor Dreihaupt trat an den schlüpfrigen, vom Regen aufgeweichten Grabrand. Seine Hand hatte er voll segnender Erde und er wollte sie gerade auf den abgesenkten Sarg gleiten lassen, als es passierte!
Seine neuen, glatten Schuhsohlen kamen ins Rutschen, fanden keinen Halt mehr und Herr Pastor glitt geräuschvoll, mit beiden Armen hilfesuchend in der Luft rudernd, auf den Sarg von Heinrich ...
Ein unterdrückter Aufschrei entrang sich den Umstehenden.
Rudolf Dreihaupt schaute einige Sekunden verwirrt um sich, dann ließ er die Erde aus der Hand gleiten, faltete beide Hände zum Vaterunser und zeichnete das Kreuz über Heinis nahem Haupt. Anschließend sprang er behende aus der Grube.
Mutter Kuschke hatte zuerst ungläubig geschaut, aber als Herr Pastor so schön da unten stand und ihren Heini segnete, lächelte sie glücklich.
Artig bedankte sie sich nach der Beerdigung für die schöne Feierstunde bei ihrem Gemeindepastor. Mit roten Wangen erklärte sie ihm, daß ihr Heini immer so leichtsinnig gewesen wäre und nie auf seine Gesundheit geachtet hätte.
"Immer das Hemde offen und die Strümpfe im Schrank. Heinrich, hab ich oft gesagt, hörste endlich auf deine Mutter, soo wirst du nicht alt!"
Sie seufzte und ihr kleines Gesicht war noch kummervoll gefaltet im Angedenken an ihren unfolgsamen Sohn, als sich ihre Gesichtszüge urplötzlich aufhellten. Mit glückseligem Lächeln verkündete sie dem andächtig lauschenden Gottesmann:
"Und wenn ich einst heimkehr zu unserem lieben Herrgott, dann, Herr Pastor -  dann machen sie mir doch auch so einen schönen Grabsprung!"

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