Der Grabsprung
von Sabine Bürger
Pastor Rudolf Dreihaupt schloß seufzend das
große Stubenfenster. Sorgenvoll glitt sein Blick gen Himmel und kopfschüttelnd
betrachtete er die dunklen, regenschweren Wolken. Bereits seit Tagen goß es
ununterbrochen und riesige Tropfen klatschten an die Fensterscheiben, glitten
auf die satte Erde und vereinigten sich zu einem nicht endenwollenden, nassen
Strom.
Das kleine Dorf war ungewöhnlich ruhig.
Still verharrten die Häuser inmitten der grauen, dunklen Regenwand, das Leben
schien den Atem anzuhalten, selbst die Kinder blieben in den Stuben.
Ausgerechnet heute mußte Pastor Dreihaupt Heinrich Kuschke beerdigen. Mit siebzig Jahren hatte es den Heinrich erwischt
und eine Lungenentzündung seinem Leben ein rasches Ende bereitet.
Seine Mutter war untröstlich.
Dreiundneunzig Jahre war sie letzten Herbst geworden und nun beerdigte sie bereits das jüngste ihrer drei Kinder. Auch den Mann hatte sie im Krieg
hergeben müssen. Das Leben war wirklich nicht gerecht.
Aber eine schöne Feier wollte sie ihrem
Heini bereiten. Alle waren eingeladen und viele Blumen mußten auch da sein.
So war es für den heutigen Tag
abgesprochen und der viele Regen
störte sie nicht.
Pastor Dreihaupt kleidete sich sorgfältig
an, zog den weißen Kragen unter dem schwarzen Anzug gerade und knöpfte den
Regenumhang fest zu. Zuletzt holte er die neuen, schwarzen Schuhe aus dem
Schrank. Liebevoll strich er mit dem Ärmel über den glänzenden Lack. Nun mußte
er im Regen auf den kleinen Dorffriedhof und seine Schuhe würden bei ihrem
Jungfernaustritt auf dem schlammigen, feuchten Gelände leiden.
Trotzdem, es half alles nichts.
Würdevoll schritt er die Dorfstraße
hinunter, grüßte freundlich nach rechts und links, hob zuweilen segnend die
Hand und hielt die Bibel fest unter dem Arm geklemmt.
Bereits die gesamte kleine Gemeinde war auf
dem Gottesacker versammelt. Alle wollten dem Verstorbenen die letzte Ehre
erweisen.
Pastor Dreihaupt würdigte das Leben des
Heinrich Kuschke dann auch in einer besonders schönen Andacht. Alle waren
ergriffen und hin und wieder schneuzte eins in sein Taschentuch.
Mutter Kuschke wurde von zwei hilfreichen
Armen gestützt. Ihr tränennasses, altes Gesicht war dem Gottesmann entrückt
zugewandt. Sie nickte ihm zu und Pastor Dreihaupt trat an den schlüpfrigen, vom
Regen aufgeweichten Grabrand. Seine Hand hatte er voll segnender Erde und er
wollte sie gerade auf den abgesenkten Sarg gleiten lassen, als es passierte!
Seine neuen, glatten Schuhsohlen kamen ins
Rutschen, fanden keinen Halt mehr und Herr Pastor glitt geräuschvoll, mit
beiden Armen hilfesuchend in der Luft rudernd, auf den Sarg von Heinrich ...
Ein unterdrückter Aufschrei entrang sich
den Umstehenden.
Rudolf Dreihaupt schaute einige Sekunden
verwirrt um sich, dann ließ er die Erde aus der Hand gleiten, faltete beide
Hände zum Vaterunser und zeichnete das Kreuz über Heinis nahem Haupt. Anschließend sprang er behende aus der Grube.
Mutter Kuschke hatte zuerst ungläubig
geschaut, aber als Herr Pastor so schön da unten stand und ihren Heini segnete,
lächelte sie glücklich.
Artig bedankte sie sich nach der Beerdigung
für die schöne Feierstunde bei ihrem Gemeindepastor. Mit roten Wangen erklärte sie ihm,
daß ihr Heini immer so leichtsinnig gewesen wäre und nie auf seine Gesundheit
geachtet hätte.
"Immer das Hemde offen und die Strümpfe
im Schrank. Heinrich, hab ich oft gesagt, hörste endlich auf
deine Mutter, soo wirst du nicht alt!"
Sie seufzte und ihr kleines Gesicht war noch kummervoll gefaltet im Angedenken
an ihren unfolgsamen Sohn, als sich ihre Gesichtszüge urplötzlich aufhellten. Mit glückseligem Lächeln verkündete sie dem andächtig lauschenden Gottesmann:
"Und wenn ich einst heimkehr zu
unserem lieben Herrgott, dann, Herr Pastor - dann machen sie mir doch
auch so einen schönen Grabsprung!"
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